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Oder: Die Macht der Freundlichkeit

Recht haben oder glücklich seinIn der aktuellen Ausgabe der Brigitte Woman (12/2014) habe ich einen interessanten Artikel über die Macht der Freundlichkeit gelesen. Darin beschreibt der Autor Till Raether wie viel es ihm doch besser gehe, seitdem er sich dafür entschieden habe, ganz bewusst freundlich zu sein: im Supermarkt die Dame mit den drei Artikel ungefragt vorlassen, dem anderen Autofahrer die Parklücke lassen, sich nicht mit den Blicken um den letzten freien Platz in der vollen U-Bahn streiten, sondern von sich aus einfach stehenbleiben. Solche Situationen haben wir alle schon erlebt. Trotzdem fällt den meisten ein solches Ausmaß an Freundlichkeit sehr schwer. Warum ist das so?

„Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit, wenn man andere Menschen einfach vorlässt? Sollen die doch warten! Mache ich doch auch! Und wenn sie was von mir wollen, sollen sie mich doch fragen!“ Ja, so sind wir Deutschen erzogen worden. Wenn du etwas von jemandem möchtest oder Hilfe benötigst, dann musst du fragen. Von sich aus geben dir die Menschen nichts. Schade eigentlich.

Denn was haben wir eigentlich davon, wenn wir auf unser Recht pochen, statt einfach mal freundlich zu sein? Eine kurze Genugtuung darüber, dass wir keinen Autodrängler reingelassen haben oder den letzten Platz in der U-Bahn ergattert haben. „Geschafft!“ Und dann? Nichts. Wenn wir uns jedoch dafür entscheiden, freundlich und zuvorkommend zu sein, dann fühlen wir uns meist auch längerfristig besser. Wir bekommen oft ein freundliches Lächeln und ein Dankeschön zurück, das uns über die Widrigkeiten des Tages rettet. Das habe ich auch schon wundersamer Weise erlebt.

Doch was ist, wenn wir doch eigentlich Recht haben? Sollen wir uns denn alles gefallen lassen? Dazu möchte ich Ihnen eine Geschichte erzählen: Einmal musste ich nach einem Seminar mein Auto aus einem Parkhafen rückwärts ausparken, hatte jedoch keinerlei Sicht auf die Straße. Rechts neben mir versperrte ein riesiger SUV mit abgetönten Scheiben komplett die Sicht. Es handelte sich um eine zweispurige Straße, die von weiten gut einsehbar ist. Also, was blieb mir anderes übrig? Schnell geschaut, die Straße war frei, ins Auto gehechtet, angeschnallt, Motor gestartet und ganz langsam ein Stück weit mich aus dem Parkhafen bewegt. Bis ich wenigstens etwas sehen konnte. Ich sah ein Auto in sicherer Entfernung auf meiner Spur anrollen. Da die zweite Spur komplett frei war, blieb ich, wo ich war und vertraute darauf, dass der Autofahrer die Spur wechseln würde, so dass ich herausfahren konnte. Kurz danach rumste es. Der Autofahrer war mir in die Seite gefahren. Er behauptete später, er hätte mich nicht gesehen, was ich mir kaum vorstellen konnte. Ich hatte ihn in Verdacht, vielleicht mit dem Handy telefoniert zu haben oder von seiner Frau und seinem Kind abgelenkt worden zu sein.

Die Polizei gab ihm Recht. Ich war schließlich rückwärts rausgefahren und hatte seine Spur versperrt. Noch lange nach dem Vorfall ärgerte ich mich maßlos darüber, da ich mich einfach ungerecht behandelt fühlte. Ich wollte Recht bekommen und konnte nicht verstehen, dass die Polizei sofort auf der Seite des anderen Autofahrers stand. Übrigens hätte ich laut Polizei so lange dort im Parkhafen warten müssen, bis ich einen Passanten gefunden hätte, der mich aus der Parklücke winken konnte. Wildfremde Menschen zu fragen wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, und von sich aus hat sich leider keiner angeboten.

Wie viel besser wäre es mir doch gegangen, wenn ich ganz in Ruhe meine Schuld eingeräumt hätte, statt lange zu diskutieren. Es gibt genügend Anwälte auf der Welt, die sich mit Recht und Unrecht auseinandersetzen müssen. Ich muss das eigentlich nicht. Ich könnte auch mal nachgeben und einfach freundlich sein – theoretisch jedenfalls.

Passend dazu habe ich dann in der Wirtschaft + Weiterbildung 11/12_14 einen Artikel über die Gewaltfreie Kommunikation von Marshall B. Rosenberg gesehen und irgendwo lese ich den Satz „Recht haben oder glücklich sein“. Genau, das ist es, denke ich.

Wenn das Leben wirklich gerecht wäre, dann würden nicht so viele Menschen in Armut und Unsicherheit leben müssen, während wir uns in Deutschland in Sicherheit wiegen. Warum also nicht einfach mal anderen Menschen den Vortritt lassen und uns dann über ihre Dankbarkeit freuen? Warum nicht jemanden ungefragt helfen? Warum nicht mal nachgeben, auch wenn wir uns im Recht wähnen? Meist gibt es mehrere Sichtweisen auf die Realität und Recht und Unrecht verschwimmen da oft.

Vielleicht wären wir alle noch viel glücklicher, wenn wir statt Recht haben zu wollen einfach freundlich und nachgebend wären. Ich will es zumindest mal eine Zeit lang versuchen. Und Sie?